UND HIER LEBEN MENSCHEN!
Karim Carella
"Und hier leben Menschen!" Dies könnte man Angesichts des Val Codera sagen…
Knapp 100 Kilometer von Mailand entfernt, von der Hauptstadt, die durch Fortschritt geprägt ist und für Moderne und technologischen Fortschritt steht, liegt dieser wirklich einzigartige und seltene Ort.
Abgelegen in den Bergen, mit Blick auf den Lago di Novate Mezzola, einem Ausläufer des Comer Sees, befindet sich das Val Codera - stolz isoliert und jenseits des touristischen Trubels; es ist das einzige bewohnte Tal im italienischen Alpenraum, in dem es keine befestigten Straßen gibt.
Hier ist die Zeit nicht stehen geblieben... Hier lebt man in der Vergangenheit! Man geht zu Fuß, wie die ersten Bewohner des Tals.
Das langsame Dahinplätschern des gleichnamigen Flusses bestimmt das Leben in dieser Region. Hier regiert die Natur zwischen unzugänglichen Abhängen, Pfaden und schwierigen Steilhängen; und sie vollendet ihren jährlichen Lauf, ohne dass das Eingreifen des Menschen diesen aus dem Gleichgewicht bringen würde.
Das Val Codera liegt zwischen dem Valchiavenna und dem Valtellina im Herzen der Rätischen Alpen; es ist ein kleines Stückchen Erde, das seine Wurzeln im Lauf der Zeit stur bewahrt und verteidigt hat und tapfer einem harten Leben bei strengen Wintern getrotzt hat - in einem unwegsamen Land, das nur schwer zu zähmen ist.
Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts begann der unvermeidbare langsame Niedergang der Bevölkerungsdichte im Tal (noch kurz vor dem Zweiten Weltkrieg betrug sie über 500); einige (etwa zwanzig oder weniger Menschen) sind jedoch hier geblieben, bringen viele Opfer und entsagen allen Annehmlichkeiten, um diesen besonderen Ort am Leben zu erhalten.
Die auf 850 Höhenmetern gelegene Siedlung Codera erreicht man über einen Pfad, der sich von Mezzolpiano aus steil über Granitfelsen nach oben schlängelt. Im Winter benötigt man hier Schneeschuhe.
Wenn die Felsenstufen im hohen Schnee verschwinden, hallt das Echo einer Atempause des Wanderers laut in der absoluten Stille wider. Der Blick verliert sich in Richtung Novate Mezzola, zum gleichnamigen See und zum Naturreservat im Pian di Spagna. Im Winter ist der Schnee auf der gesamten Strecke ein natürlicher Schalldämpfer und die Gegenwart des Menschen ist kaum wahrnehmbar, weil seine Schritte verstummen und leichter werden.
Nicht selten trifft man auf freundliche Wegbegleiter wie Bergziegen, die gelassen an bewaldeten Hängen grasen und den mühsamen Aufstieg des Menschen neugierig beobachten. Die erste Siedlung, auf die man trifft, ist Avedèe mit ihrer kleinen Kapelle. Die hier abgelegten, vertrockneten Blumen sind ein erstes Zeichen der schweigsamen menschlichen Gegenwart jener, die diesen Ort bisher nicht verlassen haben. Nach einer Abfolge von An- und Abstiegen verläuft der Pfad dann beinahe flach. Die zahlreichen, durch Eisenhandläufe gesicherten Passagen entlang der Felswände, erinnern an das herbe Dasein an diesem Ort.
Eine Inschrift über dem Eingang des kleinen Friedhofs von Codera besagt: "Ciò che noi fummo un dì voi siete adesso chi si scorda di noi scorda se stesso!" (Einst gehörten wir zu euch - wenn ihr uns vergesst, dann vergesst ihr euch selbst!). Es ist eine Mahnung, aber auch eine Aufforderung zur Erinnerung. Eine Mahnung, die sich jene Bewohner des Tals vor Augen halten, die entschieden haben, die Verbindung zur Vergangenheit nicht abzuschneiden. Und dies, obwohl sie wissen, dass sie im Angesicht der Berge machtlos sind und dass nur das Bewahren der uralten Traditionen und der Versuch, die Vergangenheit am Leben zu erhalten, ihre Daseinsberechtigung sind.
Im Örtchen Codera kann es passieren, dass man auf einen dieser Einwohner trifft, der unter der Last eines Tragekorbs voll Holz gebeugt ist, um bald darauf zu entdecken, dass gerade dieses Holz dazu dienen wird, den Kamin der kleinen Schutzhütte zu befeuern, die den Wanderern Zuflucht gewährt.
Auch wenn man nur kurze Zeit da ist, hinterlässt diese Erfahrung der Einheit mit der Natur einen tiefen Abdruck:
Die Rückkehr in die "Zivilisation", mit ihren Geräuschen und hektischen Rhythmen, lässt einen mit Wehmut, ein wenig neidvoll diese Wächter der Erinnerung betrachten, die dort oben, geschützt von der Ruhe der Bergwelt, ihr Leben führen. |